Tag 1 in der Sperrzone

Die Nacht endet nach wenigen Stunden unruhigen Schlafes. Die Mono-Bettdecke ist eine Herausforderung für Ungeübte. Die vielen Eindrücke vom Vortag und das hellhörige Haus haben nicht wirklich Erholung gespendet. Erholung war jedoch auch nicht das primäre Ziel der Reise. Tapfer besprenkeln wir uns mit dem dünnen, temperaturunbeständigen Duschstrahl. Dann klopft es. Der Administrator steht mit einem Frühstückstablet vor der Tür. Er ist Rezeptionist, Koch und Zimmerjunge gleichzeitig. Mit den weiteren Tablets läuft er so oft durch die Etagen, bis alle Reiseteilnehmer versorgt sind. Ein wenig erinnert das Ganze an die Verteilung der Speisen im Krankenhaus. Wir rühren uns einen löslichen Kaffee zusammen und stellen Gesuche und Angebote zum Frühstückstablet in die WA-Gruppe. Verhungern muss niemand, auch wenn der Verlust von echtem Bohnenkaffee für einige ein erhebliches Drama darstellt. Selbst wenn es nur für einen kurzen Zeitrahmen auf einer sehr abenteuerlichen Reise ist – diese Abweichung von der Norm scheint an der Grenze der Zumutbarkeit zu liegen. Ich selbst komme kaum zum Frühstücken, da Fragen über Fragen auf mich einprasseln.

Pünktlich 8:00 Uhr hält der Bus der chernobylwel.com auf dem Parkplatz unserer kleinen Feuerwache. Alex von der Agentur begrüßt uns freundlich und wir lernen unseren Guide für die nächsten beiden Tage kennen: Ludmilla. Ich bin erleichtert über ihr ausgezeichnetes Deutsch. Der Kofferraum des Busses fasst etwa drei von elf Taschen, der Rest des üppigen Gepäcks besetzt die Rückbank. Wir erhalten kurze Instruktionen, unsere Tickets, 4 Dosisleistungsmessgeräte und den groben Ablauf der Individualtour. Dann ruckelt der Bus über die bergig, löcherigen Straßen Kiews stadtauswärts. Zur großen Freude der Koffein-Junkies ist ein kurzer Stopp an einer Tankstelle geplant. Die Versorgung mit Kaffee und Trinkwasser ist gesichert. Mit Bier sieht es da schon wesentlich dramatischer aus. Das verlockende Kühlregal ist durch ein semipermeables Rollo gesichert. Feinstes ukrainisches Bier, abgefüllt in zum Teil 2 Liter Petlingen, ist so zwar sichtbar – bleibt für den Einkauf jedoch leider unerreicht. Ein Schild informiert den geneigten 11-Uhr-Biertrinker über ein strenges Trinkzeitlimit. Während der Rest der Gruppe den Shop der Tankstelle zur Bevorratung nutzt, bespreche ich mit Ludmilla den Ablauf der Tour in den nächsten beiden Tagen. Da es selbst das Kamera-Fahrzeug von Google schon in die Kernzone geschafft hat, habe ich einige Orte bereits auf meiner Watchlist. Auch die Tipps von Vlad und meinem Agentur-Kontakt Maja kann ich gut mit unterbringen.

Das Bierschutz-Rollo
Das Bierschutz-Rollo

Meine persönliche Ausnahme ist der Besuch der Self-Settler. Die Rückkehrer sprechen kein Englisch und ich möchte es unbedingt vermeiden, diese Leute wie Tiere im Zoo anzugaffen. Damit treffe ich auch Ludmillas Vorstellung vom würdevollen Umgang mit dem Sperrgebiet. Auf Wunsch hätte Sie uns zwar zu den Häusern der inzwischen geduldeten Bewohner der Zone I gebracht, sie mag diese Art von Katastrophen-Tourismus ebenso wenig. Nach Horrorberichten zu anderen Agenturen, die auf diese Form des Tschernobyl-Trips spezialisiert sind, bin ich erleichtert eine seriöse Agentur angeheuert zu haben.

Mir ist bewusst, dass auch wir im Grunde nur Gaffer sind. Bis vor wenigen Monaten hatte ich mich mit dem Thema nicht sonderlich beschäftigt. Ich wusste von der Katastrophe vor etlichen Jahren. Doch dass hunderte Ukrainer und Weißrussen täglich in die Zone fahren, um dort zu arbeiten, löste bei mir vorerst Unglauben aus. Die Landschaft rund um den Reaktor hielt ich für absolut und umgehend tödlich. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass selbst der Bau des Sarkophags zu den eher neueren Errungenschaften meines Wissens gehört.

OMG - Warum Tschernobyl?

Geocaching ist der Zündfunke, der den Faible für Lost Places in uns Muffmuffs auslöste. Und nun speziell auch das Interesse für den wohl weltweit größten seiner Art: Prypjat. Die verlassene Stadt ist jedoch nicht gerade Florenz oder Paris. Weder erlangt man diese ohne Genehmigung (ausgenommen Stalker) noch erntet man neidische Kommentare, wenn man von seinem nächsten "Urlaubsziel“ berichtet (ausgenommen GeoCacher). Beginnt man allerdings damit, sich mit der Geschichte der Stadt und der Zone rund um den explodierten Reaktor zu beschäftigen, lässt einen das Gelesene so schnell nicht mehr los. Zu den frischeren Erkenntnissen gehört auch, dass bereits seit längerer Zeit der Tourismus in diesem Gebiet boomt. Im Zeitraum der Olympischen Spiele in der Ukraine muss es einen regelrechten Run auf die Sperrzone gegeben haben. Und ja: man kann wohl inzwischen auch Pokemons in Tschernobyl fangen. Diese Informationen ließen mich während der Reisevorbereitungen skeptisch werden. Soviel kann ich dem Reisetagebuch vorwegnehmen: vor dem Anblick solch geistiger Schwachmaten blieben wir auf unserer Expedition glücklicherweise verschont.

Ich kann und möchte in unserem Blog nicht die gesamte Geschichte von Tschernobyl und dem Unglück im Reaktor aufarbeiten. Dies ist nicht der Text, um alle physikalischen oder detaillierte historische Zusammenhänge zu erklären. Ganz davon abgesehen, würde ich mir das gar nicht zutrauen – auch wenn ich inzwischen recht gut informiert bin. Für Interessierte gibt es genügend Seiten im Internet, um sich selbst ein Bild zu machen. Eine gute Zusammenfassung bietet auch unsere Agentur.

Zu den jeweilig besuchten Plätzen, wird es kleinere Angaben zum besseren Verständnis geben. Unser Staunen gilt dem Charme der Verlassenheit bei gleichzeitiger Konservierung der Vergangenheit. Das Wissen um große vierspurige Alleen, die sich innerhalb von 30 Jahren in Urwälder verwandeln – durch die tagsüber einige Touristen und nachts Wölfe, Wildpferde oder Wisente und Elche streifen. Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass die großen Plünderungen in den 90er Jahren sowie rücksichtlose Souvenirjäger mehr an den Places genagt haben, als allein der Zahn der Zeit. Im Zusammenhang mit dem atomaren Super GAU und der Kontamination für tausende Jahre, erscheint uns das Gebiet trotzdem spannender als jedes Museum.

Nachdem wir also den groben Fahrplan abgesteckt haben, kann die Fahrt in die Sperrzone fortgesetzt werden. Inzwischen sind auch Busse anderer Agenturen auf dem Parkplatz der Tankstelle eingetroffen. Schade, dass ich mir nicht getraue, den Nerd im nagelneuen Camouflage-Anzug und in auf Hochglanz polierten Springerstiefeln zu fotografieren. Effektvoll trägt er schon hier das Dosimeter um den Hals. Die tage- und sicher auch nächtelange Erfahrung im Cyber-Fall-Out sind an dem blassen Dürrling nicht spurlos vorüber gegangen. Wir steigen wieder in den Bus. Für alle, die sich bis hier her noch nicht informiert haben, läuft nun eine Dokumentation im Bus-TV. Diese ist tatsächlich sehr interessant, steigt aber aufgrund der schlechten Straßen immer wieder aus und beginnt von neuem.

Also widme ich mich lieber der vorbei ziehenden Landschaft. Die Dörfer zeugen von Armut, die Straßen sind schmutzig, obwohl man deutlich mehr Straßenfeger sieht, als hier zu Lande. Fast ausnahmslos mit Reisigbesen wirkt deren Einsatz jedoch eher unkoordiniert und nutzlos. Für eine riesige Basilika mit unbedingt Gold bedeckter Kuppel ist aber anscheinend auch im noch so kleinen Dorf Platz und Geld vorhanden. Es gibt immer wieder Märkte am Straßenrand. Die angebotenen Waren liegen auf Planen auf dem Boden oder bestehen aus einem mit Broten gefüllten Kofferraum. Je näher wir der Sperrzone kommen, umso dünner wird die Besiedlung. Kurz vor Frühling sieht die Graslandschaft gelb und trostlos aus. Dazwischen gibt es immer wieder große Abschnitte mit Nadelwald. Vor uns ist bis zum Horizont die schnurgerade Straße zu sehen.

Checkpoint, Zone I

Der Bus hält nach etwa 1,5 Stunden Fahrt am ersten Checkpoint. Ludmilla übernimmt unsere Anmeldung in der Zone. Außerdem erscheint beim bloßen Erklingen ihrer Stimme eine kleine Hundedame. Man kennt sich. Mit schnellen, routinierten Handbewegungen befreit Luda die kleine Streunerin von ein paar riesigen Zecken. "Atomzecken!“, denke ich sofort, denn schließlich ist nun genau hinter der Schranke der Beginn der Sperrzone. Alle Teilnehmer halten sich an die zu vor abgesprochenen Anweisungen. Niemand leckt den Hund an oder steckt sich eine der widerlichen Zecken ein. Hinter der Schranke quietschen vergnügt die Welpen. Es gibt noch eine Hand voll Futter für die pelzige Familie. Danach erhalten wir eine tiefgründigere Einweisung in die verschiedenen Strahlungsformen sowie die Verwendung der Geräte. Ludmilla wird uns auf der Tour einige Hot Spots zeigen, an denen die Strahlung besonders hoch ist. Wir steigen wieder in den Bus. An der Landschaft ändert sich auch nach der Schranke nichts. Aber das Bewusstsein spielt Streiche. Der Checkpoint und die Schranke suggerieren: "Ab hier ist es nun gefährlich!“.

Das Dorf Salissja

Es dauert nicht lange, bis wir halten. Erst bei genauerem Hinsehen, bemerken wir neben dem Mahnmal einige Häusschen im struppigen Wald. Die Straße gibt es nicht mehr, nur der Trampelpfad der Touristen führt durch das ehemalige Dorf Salissja. Die Bewohner mussten den Ort verlassen. Ihr Hab und Gut sowie ihre Haustiere durften sie wegen der Verstrahlung nicht mitnehmen. Die Tiere wurden an einem eigens eingerichteten Standort "entsorgt“, um eine Verbreitung außerhalb der Sperrzone zu vermeiden. Wie viele vor uns folgen nun auch wir dem Pfad. Die Häuser sind in einem schlechten Zustand. Noch versuchen wir jedem Grashalm und allen Zweigen auszuweichen. Beim Betreten der Häuser merke ich, wie ich versuche nicht zu atmen. Nur keine radioaktiven Stäube einatmen! Herr Muffmuff, der ausgebildete Strahlenfachmann, hatte vor jeglicher Kontamination und Inkorporation gewarnt. Soll ich schon die Maske aufsetzen?

 

Wie gefährlich ist das hier alles? Man bekommt eine Ahnung davon, warum die Strahlung als unsichtbarer Feind so hinterhältig ist. Man sieht nichts, riecht nichts, schmeckt nichts. Nein, man spürt rein gar nichts. In Salissja ist das auch nicht verwunderlich, denn die Strahlung ist praktisch nicht vorhanden bzw. vergleichbar mit jedem Dorf im Erzgebirge. Die Messwerte im Flugzeug waren höher als hier in den Hütten. Viel zu sehen gibt es nicht. Die Häuser sind komplett geplündert. Selbst Bodendielen wurden als Feuerholz entnommen. Hier und da liegen Schuhe, Bücher und Zeitungen. Draußen verrottet ein Auto. Im Kulturhaus zeugt nur die Bühne von früheren Veranstaltungen.

Tschernobyl und Prypjat

Unser nächster Stopp ist ein typisches Fotomotiv: das Ortseingangsschild von Tschernobyl. Der Name Tschornobyl oder Tschornobylnyk (Чорнобиль, Чорнобильник) ist eine ukrainische Bezeichnung der Pflanzenart Beifuß oder Wermutkraut, das zur selben Pflanzengattung Artemisia gehört. Das schmuckvolle Schild wirbt mit der Atomkraft der am Fluss Prypjat gelegenen Stadt. Neben dem Bauwerk verlaufen die oberirdisch verlegten Wasserleitungen, welche mit ihrer fragwürdigen Isolierung nicht sehr
vertrauenserweckend sind.


Die wenigsten Mahnmale, die uns am Straßenrand begegnen, haben etwas mit der Tschernobyl-Katastrophe zu tun. Meist sind es Bollwerke aus sowjetischen Zeiten. Wir halten am Pamiatnik-Angel. Der Bibel nach soll die Katastrophe bereits prophezeit worden sein. Als bekennende Atheistin halte ich davon nicht viel. Die vor uns stehenden Fakten sind eindrucksvoller. Aufgereiht an einem Weg sind die Ortseingangsschilder aller evakuierten Orte in der Ukraine und in Weißrussland. Eine begehbare Karte aus Beton zeigt die Standorte sowie die Umrisse der Zonen I und II.

Desiatka Hotel

Nun ist es Zeit für unser Dinner. Dazu fahren wir ins Desiatka, dem einzigen Hotel in Tschernobyl und gleichzeitig Kantine für viele Arbeiter. Die Tische sind bereits gedeckt und selbst Veganer und Vegetarier finden Berücksichtigung. Vor dem Hotel versorgt unsere liebe Ludmilla zuerst alle Hunde, welche bereits schwanzwedelnd aus ihren Verstecken kommen. Es gibt drei Gänge mit einfachem aber gutem Essen – Bier allerdings erst ab 19 Uhr, dafür ein undefinierbares rotes Sirupgetränk. Im Vorraum kann man sich am Automaten ein T-Shirt ziehen. Mit dem Kauf einer Dose Shirt unterstützt man angeblich die Selfsettler. Es dauert nicht lange und am Automat bildet sich eine Schlange shoppingbereiter Personen. Mit schretternden Geräuschen saugt der Kassenschlitz Schein für Schein ins Innere. Zwischendurch muss Frau Drago fast vollständig in den Automat kriechen, weil eine der Dosen den Absprung in den Entnahmebereich nicht ganz schafft. Boeph selbst wird später mit einem Shirt belohnt, dessen Damen M eher der XS entspricht. Die Männer der Gruppe meinen, sie könne das trotzdem sehr gut tragen und solle es am besten auch gleich anziehen.

Feuerwache, Mahnmal, Räumroboter

Frisch gestärkt und mit den ersten Souvenirs setzen wir unsere Tour fort. Das nächste Mahnmal steht direkt vor der immer noch besetzten Feuerwache der Stadt. Das Monument zeigt sowohl Liquidatoren, als auch Feuerwehrmänner, Ärzte und Techniker, welche direkt nach dem Unglück im Einsatz waren. Aktuell sind die Fire Fighter mehrmals pro Jahr im Einsatz. Gerade in den heißen, trockenen Sommern entstehen oft Brände in der Sperrzone. Diese sind gefährlich, da durch Feuer erneut radioaktive Teile in die Luft geraten und weiträumig verteilt werden können. Wir sehen außerdem die Roboter, die zur Räumung verstrahlter Materialien eingesetzt wurden. Wobei man sich unter dem Begriff "Roboter“ aus dieser Zeit nicht allzu viel vorstellen sollte. Einfache Baumaschinen, die ferngesteuert arbeiteten, trifft es eher. Die Geräte gaben unter der Strahlenbelastung allerdings bei Zeiten den Geist auf und wurden durch die sogenannten "Human Robots“, besser bekannt als Liquidatoren, ersetzt. In der Anmutung eines Spielplatzes stehen die immer noch verstrahlten bunten Geräte hinter einem niedrigen Zaun.

Kindergarten Tschernobyl

Der nächste Halt ist an einer Kinderwochenstätte. Anders als aus unseren Kindergärten und –Grippen bekannt, wurden die Kinder der arbeitenden Eltern für die kompletten Werktage abgegeben. Ein sehr eindrucksvoller und oft schon abgelichteter Ort. Puppen, die zurück gelassen worden sind, wirken generell inszeniert. Es waren bereits zu viele Urbexer vor Ort, um zu glauben, dass das moosgesichtige Plastikkind seit 1986 am Fenster steht und in den Wald blickt. Oder, dass der Teddy am Eingang auf dem Dreirad den evakuierten Bewohnern folgen wollte. Die entstehenden Fotos sind jedoch so bizarr, dass auch wir dem dunklen Charme der Motive nicht widerstehen können. Obwohl sicher vieles gestellt ist, kann man den Alltag der Kinder in dem Haus erahnen. An der niedrigen Garderobe gibt es kleine Bildchen. Im Schlafsaal stehen die Doppelstockbetten noch immer dicht gedrängt. In schiefen Regalen finden sich toll illustrierte Lernmaterialen zu vielen Themen neben Vogelnestern. Draußen, im zu gewucherten Garten haben sich die Klettergerüste und Spielgeräte der Landschaft so angepasst, dass man sehr genau hinsehen muss, um diese zu erkennen.

Neben dem Mahnmal am Eingang der Kinderwochenstätte befindet sich unser erster Hot Spot. Das kennzeichnende Schild dazu fehlt. Ludmilla erklärt uns, dass diese Schilder zu den beliebtesten Souvenirs gehören und praktisch wöchentlich verschwinden. Ich atme kaum und andere ziehen ein Metallschild aus dem Hot Spot? So unterschiedlich sind die Menschen.

 

Hier können wir das erste Mal das Dosismessgerät auf eine abgetrampelte Stelle am Wegrand halten. Das Ergebnis sind 11,15 µSv. Ich kann noch nicht so recht einschätzen, ob das gefährlich ist. Statistisch gesehen wird der Durchschnittsdeutsche pro Jahr mit 4 mSv Strahlung belastet. Herr Muffmuff erklärt mir, dass man etwa 358 Stunden (knapp 14 Tage) nackt hier auf dieser Stelle sitzen müsste, um die gleiche Dosis an radioaktiver Strahlung aufzunehmen. Ein CT-Scan im Krankenhaus kann beispielsweise je nach Art bis zu 100 mSv zusätzliche Belastung bringen. Dazu müsste man schon ein Jahr auf dem Hot Spot hocken. Für solche Experimente fehlt uns eindeutig die Zeit.

Todesbrücke am Ortseingang Prypjat

Kurz darauf erreichen wir Prypjat. Das dazugehörige Ortseingangsschild steht wenige Meter vor der "Todesbrücke“. Schuld am Namen ist die berühmte Sicht, die sich von hier aus zum AKW erschließt. Gerüchten zufolge, sollen Bewohner der Stadt, darunter auch Kinder, welche von der Brücke aus den Brand beobachtet hatten, an den Folgen der Strahlung gestorben sein. Gerüchte gibt es zur Sperrzone recht viele – bis hin zu Untoten und riesigen, nackten Wölfen ist fast alles dabei. Spannender ist ein Vergleichsbild, welches und Ludmilla präsentiert. Es zeigt die Straße vor den Ereignissen von 1986. Neu erbaute Hochhäuser sind zu sehen, da wo man auf den ersten Blick jetzt nur Wald erblickt. Die Schienen unter der Brücke hingegen sind noch in Gebrauch. Täglich zwei Mal fährt hier der Zug mit den Arbeitern. Morgens von Slavutich nach Tschernobyl und abends wieder zurück. Auch wir werden abends mit dieser Bahn fahren.

Jupiter Plant

Bei all der Verlassenheit ist es umso erstaunlicher zu erfahren, dass die Fabrik Jupiter, vor der wir nun halten, noch bis Ende der 90er Jahre weiter betrieben wurde. Offiziell wurden hier irgendwelche Kleinteile für Tonbandgeräte hergestellt. In Wirklichkeit hatte der Zweck der Produktionsstätte jedoch einen militärischen Hintergrund und gehörte zu den Top-Secret Betrieben der damaligen Sowjetunion. Obwohl auch dieses Gelände von der westlichen Spur des radioaktiven Fallouts gestreift wurde, wollte man den Betrieb nicht aufgeben. Eine Stunde lang streifen wir durch die alten Produktionsstätten. Vom Dach des Verwaltungsgebäudes sehen wir die Hochhäuser der Stadt. Wir laufen durch Büros, wo hier und da noch Möbel, Unterlagen und die Getränkevorräte des Betriebsdirektors zu finden sind. In den Werkshallen selbst ist es sehr dunkel und es tropft beständig von der Decke. Auf einen Aufenthalt in diesen Räumen verzichten wir daher lieber.

Polizeiwache

Da wir möglichst viel sehen wollen, geht es schwankend über vom Wurzelwerk der Bäume aufgebrochene Wege weiter zur Polizei-Station von Prypjat. Die große Gefängniszelle ist noch gut erhalten. Grusliger sind die Einzelzellen. Hier ist es dunkel und die schmalen, beschlagenen Sehschlitze der schweren Zellentüren lassen auch mich an die Mythen glauben und erinnern tatsächlich an einige Szenen aus „The Walking Dead“. Die tropfende Decke lädt nicht zum Verweilen ein. Wir fliehen nach Draußen. Uns erwartet ein Fahrzeugfriedhof. Hingeworfen, wie ein Spielzeug liegt ein Bus im Gras. Wäre da nicht die Strahlung, dann gäbe das Gelände genug Möglichkeiten für einen ausgedehnten LP-Multi.

Fußballstadion, Vergnügungspark, Energetik

Vom Fußballplatz in Prypjat ist nicht viel zu erahnen. Wir übersteigen eine flache Mauer und erkennen zwischen den Bäumen eine alte graue Tribüne. Eine andere Gruppe ist noch vor Ort. Alle Teilnehmer tragen ein Dosismessgerät. Alle haben den Alarm eingeschaltet und die zu meldende Maximaldosis etwa auf 0,1 µSv gestellt. Piepsend und knackend schwirren sie durch das Gelände wie ein Schwarm Mücken. Zum Glück ist die Zeit der Tagestourer dann zu ende, so dass wir die Sperrzone fast für uns alleine haben. Zum Kicken bleibt dennoch keine Zeit. Weit rollen würde der Ball auf diesem naturbelassenen Platz sowieso nicht. Trotzdem versucht Herr Muffmuff einen heldenhaften Stadioneinlauf zu inszenieren und erntet dafür das üblich Augenrollen seiner Lieblingsehefrau. Nun, da wir die verlassene Stadt für uns haben, besuchen wir den wohl berühmtesten Platz von Prypjat: den Vergnügungspark. Das große rostige Riesenrad, mit den gelben Gondeln wird natürlich umgehend auf den deaktivierten Tradi GC2TCHE "Bennies Blow-out Box“ untersucht. Außerdem übernimmt eugenkrf die notwendigen Messungen für den Earth Cache GC2V455 "Bennies Blowout Battle“. Das Karussell, die kaum noch zu erkennenden Schiffsschaukeln sowie die Auto-Scooter sterben vor Ort langsam vor sich hin. Man kennt die Motive von zahlreichen Fotos. Und doch ist es wirklich bizarr auf dem nie genutzten Rummelplatz zu stehen.

Generell begreift man hier die Situation nur schwer. Eine ganze Stadt, wurde in Rekordzeit aus dem Boden gestampft. Die Stadt war bestimmt für glückliche Menschen. Dafür gab es Kindergärten, Sportstätten wie das Bad, die Turnhalle und den Fußballplatz, Krankenhäuser, Schulen, Supermärkte, Theater und Bibliotheken, Hotels und Cafés, Häfen und sogar den Rummel. Mit einem Knall ist all das nutzlos und nicht mehr zu verwenden.

Sicherheitsschleuse, Abendessen im Desiatka

Bis zum Einbruch der Dunkelheit bekommen wir noch einiges zu sehen. Dann werden wir zum Abendessen wieder ins Desiatka Hotel gebracht. Weil wir dafür die Zone II verlassen, durchlaufen wir hier unsere erste Sicherheitsprüfung. Der Bus wird von außen grob mit alten Gerätschaften abgescannt. Wir werden ins Gebäude geführt und einzeln auf einen Scanner, welcher recht antik wirkt, auf Strahlung überprüft. Von den Wachposten interessiert sich kaum jemand für unsere Testergebnisse. Wir erhalten alle grünes Licht. Der Metallbügel wird entriegelt, so dass wir diese Station passieren dürfen. In der Kantine des Desiatka gibt es Rohkostsalat, überbackene Bemmchen und Reispamps. Alles schmeckt gut und nun ist auch die Zeit, in der Biergenuss wieder zu legalen Handlung gehört.

Mit dem Zug nach Slavutich

Eines der größten Abenteuer für den heutigen Tag beginnt erst noch. Die Zugfahrt nach Slavutich. Als wir aus dem Bus steigen, trauen wir unseren Augen kaum. Wir befinden uns praktisch direkt hinter dem Sarkophag. Noch wundern wir uns, wo hier der Bahnhof sein soll. Bei Nieselregen und Scheinwerferlicht stapfen wir los, beladen mit unserem Gepäck. In eine der Baracken gehen wir hinein. Hier durchlaufen wir erneut eine der hochmodernen Strahlenschleusen. Koffer und Taschen werden einfach über eine Absperrung gereicht.

Wir folgen langen Gängen. Aus den abgehenden Türen strömen immer mehr Arbeiter in den Hauptgang. Vor einer weiteren Schleusenanlage ist Warten angesagt. In diesem Bereich sind eindeutig wir die Aliens. Etwas deplatziert stehen wir mit unserem "Urlaubsgepäck“ zwischen all den müde wirkenden Männern im schummrigen Licht das Ganges. Der Raum füllt sich mehr und mehr. Die meisten reihen sich vor uns ein. Wir würden nie wagen, deswegen Beschwerde anzumelden. Dann gibt es eine Art Startzeichen: alle Schleusen füllen sich gleichzeitig. Förmlich im Sekundentakt ertönt das Freigabesignal und die Bügel der Schleusen knallen nach hinten. In irrer Geschwindigkeit drängen die Arbeiter durch die Meßgeräte. Hier gibt es keine Zeit für unsere dämlichen Touriefotos. Alle wollen zum Zug, alle wollen endlich Feierabend. Wieder besteht das Problem, dass wir mit unseren Reisetaschen nicht durch die Schleuse kommen. Ludmilla informiert den zuständigen Polizisten. Auch für ihn sind wir das reinste Panoptikum. Er schmunzelt. Die Worte, die er uns zuwirft verstehen wir leider nicht. Als alle Taschen über die Absperrung bugsiert sind, bemühen auch wir uns um eine zügige Schleusung.

Der Zug steht nicht wie gewohnt am Bahnsteig. Zu sehen sind nur die geöffneten Türen. Der Bahnsteig selbst ist wieder eine Art Wellblechtunnel. Lediglich die Öffnungen für die Zugtüren sind ausgespart. Wir durchstreifen die Wagons auf der Suche nach freien Plätzen. Einige sind reserviert. Viele sind bereits besetzt. Oft liegen die Mitarbeiter des AKW lang auf den Plätzen und schlafen bereits. Fast alle haben die Kopfhörer ihrer Smartphones in den Ohren. Eine Vierergruppe spielt leise Karten. Auch wir sind müde und es scheint, als könne das heute erlebte gar nicht in einen einzigen Tag passen. Draußen fliegt nur die Dunkelheit vorbei – die unbewohnte Landschaft von Weißrussland. Innerhalb dieses Stückes gibt es sogar eine Zeitumstellung. Nach 45 Minuten erreichen wir die Endstation in Slavutich. Hier ist der Tradi GC3HCDA – "Train to Pripyat“ noch Pflicht.

Event "Eleven Saxons in Slavutich"

Unser Gepäck wird bereits durch Unbekannte zum Hotel gefahren. Da Ludmilla ziemlich verärgert mit dem beauftragten Taxifahrer spricht, bangen wir kurz um unsere sieben Sachen. Aber alles geht gut. Unbeschwert laufen wir zum Hotel, wo nun auch mit wenigen Minuten Verspätung unser Event GC70P23 – "Eleven Saxons in Slavutich“ stattfinden kann. Papa Capitano hat eigens dafür ein paar Schnäpse ins Land geschmuggelt. Gäste aus
Slavutich kommen leider nicht zum Event – wir bleiben unter uns. Dann beziehen wir die unerwartet pompösen Zimmer. Die heiße Dusche ist nach dem langen Tag eine Wohltat.

Eine verhängnissvolle Begegnung und "maximal Koralle"...

Die Bar des Hauses hat bereits geschlossen. Wegen akuter Dehybierung können Splitter der Reisegruppe nicht an der Lösung der beiden Earthcaches teilnehmen: Lennert87, Das Drago Kartell, der Werkstroll, die Muffmuffs und der Käfermann sind am schlimmsten betroffen. Stattdessen suchen Sie die Lounge Bar auf der anderen Straßenseite auf. Dort angekommen, trauen wir unseren Augen kaum. Vor der Kneipe parkt ein Audi mit Zwickauer Kennzeichen. Ein Selfie mit diesem Zufallsfund ist für unsere waschechten Zwigger unvermeidbar.

Dann geht es plappernd und lachend ins Innere der Wohlfühl-Bierbar. Im Flur stehen 3 recht grimmig aussehende Ukrainer. Als ich mich bei den vorgedrängelten Jungs, denen ich die Türe aufhalte, bedanke: "Na klar Jungs, Danke! Ladys first!“, kneift einer der Männer die Augen zusammen und fixiert meinen Blick. "Wo kommt ihr denn her?“, fragt er sichtlich verwirrt. Die Zusammenhänge habe ich sofort auf dem Schirm und behaupte stellvertretend für die komplette Gruppe: "Aus Zwickau!“. Er kann diesen Zufall kaum fassen.

Es dauert nicht lange, bis die Bedienung des Lokals eine Flasche Wodka in unser geselliges Rund stellt und den Autohändler aus der Heimat als edlen Spender preisgibt. Er kommt noch auf einen kurzen Plausch an den Tisch und kann nicht so recht verstehen, was uns in diese Gegend treibt. Jedenfalls wünscht er uns einen schönen Abend – und den haben wir dann auch. Mit der etwas komplizierten Öffnung der Wodka-Flasche nimmt der schicksalhafte Abend seinen Lauf. Kinderfotos vom Werkstroll, Boephs maximal korallfarbenes Shirt, der hastige Genuss alkoholischer Getränke, der ereignisreiche Tag... Wir sind nur noch am Lachen. Die Flasche kreist, Schoko-Latte und Bier fließen in Strömen. Noch sind wir nicht die betrunkensten Gäste der Bar.

An Tisch 1 schläft einer der drei grimmigen Ukrainer und wir lernen, wie die Erweckung von Schnapsleichen in diesem Land von statten gehen. Sein Kumpel schwenkt ein mit Wasser gefülltes Cognac-Glas, füllt sich die Backen randvoll und spuckt darauffolgend dem Abkacker mit Schmackes die Suppe ins Gesicht. Wahrscheinlich ist das Wasser nicht kalt oder nass genug, denn der Behandelte bleibt davon unbeeindruckt. Erst nach mehreren rituellen Bespuckungen gelingt die Wiederbelebung. Inzwischen sind auch wir zur Vernunft gekommen und verlassen noch immer lachend und schwankend das Lokal. Zum Glück ist es nicht weit bis zum Hotel. Für Boeph ist bereits der Zimmerschlüssel an der Rezeption hinterlegt, denn der Drago-Mann hatte den Abend mit uns vorzeitig wegen Mobbings beendet. Wieder ist es spät geworden, für Schlaf ist nur bis 5.30 Uhr Zeit. Der Zug nach Tschernobyl fährt 6.30 Uhr. Was für ein Tag!



Kommentar schreiben

Kommentare: 5
  • #1

    Werkstroll (Freitag, 17 März 2017 23:21)

    Das hast du wieder super geschrieben, Nici.
    Da kann man das Erlebte gleich noch mal erleben.

    Freue mich schon wie es weiter geht.

    grüße
    Metti

  • #2

    Drago Frau alias boeph (Samstag, 18 März 2017 00:15)

    Niki du bist die Beste.
    Das Geschriebene ist Weltklasse.
    Ich merke nur gerade, das ich anscheinend paar Lücken im Gedächtnis habe.

  • #3

    eugenkrf (Sonntag, 19 März 2017 16:27)

    Was für eine Zusammenfassung. :-) Prima! Ich habe den Text mehrmals gelesen und immer wieder was neues gelernt, was ich so während unserer Reise nicht mitgeschnitten hatte.
    Gemerkt habe ich mir auch noch, dass ca. 230 Dörfer und Städte evakuiert und verlassen wurden.
    Bevor der Sarkophag über den alten Reaktor 4 gesetzt wurde lag die durchschnittliche Strahlenbelastung bei ca. 14 µSv/h. Aktuell liegt sie bei ca. 2 - 4 µSv/h.

  • #4

    Frau Muffmuff (Sonntag, 19 März 2017 18:54)

    Waren die Werte im Flieger nicht sogar auch bei 4 µSv/h?

    Danke auch für den Hinweis: das erste Dorf, welches wir besucht haben, hieß Salissja und nicht Kassinka.

  • #5

    DerDragoKartellMann (Dienstag, 21 März 2017 12:32)

    "Die tage- und sicher auch nächtelange Erfahrung im Cyber-Fall-Out sind an dem blassen Dürrling nicht spurlos vorüber gegangen". :D, ich leg mich grad lang vor lachen :).