Tag 2 in der Sperrzone

Nach einer sehr kurzen Nacht ist die Melodie der Wecker-App unerträglich. Wohlbefinden sieht anders aus. Im Hinblick auf die Erlebnisdichte des Kurztrips überwiegt nach einer heißen Dusche erneut der Tatendrang. Wir schlüpfen wieder in unsere leicht angestrahlte Kleidung und sortieren das Gepäck für den Tag zurecht. Da der Zug nach Tschernobyl heute genau ein Mal fährt, müssen wir unbedingt pünktlich sein. 6:10 Uhr wollen die Fahrer mit dem Gepäck los, 6:30 Uhr fährt die Bahn. Ich bewundere die Gelassenheit derer, denen es bei diesen Vorgaben gelingt, erst 6:00 Uhr aufzustehen. Ich bin hingegen sehr angespannt, denn die Uhr tickt und für die Individualtour wäre es verheerend, den Zug zu verpassen. Dann tritt Boeph aus der Tür. Am Vorabend sah sie irgendwie besser aus. Mit erhobener Faust ruft Sie: „Ihr seid alle Schuld!“ und strahlt dabei nicht die Kraft aus, die ich von ihr gewohnt bin. Von all den Getränken am Vorabend, hatte ausgerechnet sie das Schlechte abbekommen. Der Schoko-Latte-Bohne grinst siegesbewusst.

Für größere Auswertungen bleibt keine Zeit. Eilig setzt sich die Reisegruppe wieder in Bewegung Richtung Bahnhof. Bevor wir in den Zug steigen, übergeben wir unsere UIA-Sickbags an Boeph. Auch sie scheint unter die Sammler gegangen zu sein. Unser Event GC70P2K – "Eleven Saxons cross Belarus“ verschläft sie jedoch. Die Veranstaltung vergeht wie im Flug, Gäste sind zu dieser erbarmungslosen Zeit keine anwesend.

 

Der Zug rollt durch weite Gras und Moorlandschaften. Nur ab und zu ist ein verlassenes Haus zu sehen. Wieder ist es ruhig im Abteil. Auch zum Sonntag fahren viele Arbeiter ins AKW. Am Bahnhof hat es Boeph besonders eilig. Auf der Suche nach einem Papierkorb drängelt sie sich durch die Menschenmenge zum Bahnsteig, nicht ohne darüber nachzudenken, welche Figur sie dabei abgibt. Trotzdem bleibt sie in unseren Augen den ganzen Tag "maximal Koralle“. Man hört kein Klagen, nur ab und zu ein "Beachtet mich nicht!“. Weil sie unter den gegebenen Bedingungen den ganzen Tag durchzieht und aushält, ist sie unser Super-Boeph.

Der Bahnhof direkt am AKW in Tschernobyl
Der Bahnhof direkt am AKW in Tschernobyl

Frühstück im Desiatka

Als erstes geht es für uns ins inzwischen gut bekannte Desiatka. Dort wartet ein stark Ei-haltiges Frühstück auf uns – Omlett und mit Mohn gefüllte Eierkuchen. Die kaffeedurstige Meute strapaziert die kleine Kaffeemaschine. Als ich nach Kaffeesahne frage und mit den Fingern eine drei suggeriere, schiebt mir das matronenhafte Mädchen ohne Lächeln einen Blister über die Theke. Erneut zeige ich die gewünschte Anzahl. Mit bockiger Miene bricht sie einen weiteren Blister ab. Nun habe ich schon 2. Fast geschafft, doch ich lasse nicht locker. Die letzte Sahne knallt zornig auf den Tresen. Mein freundliches Spasibo ändert ihre Miene nicht. Ich versuche das nicht über zu bewerten, denn wir haben von Ludmilla viel über das Leben der Leute erfahren. Die Löhne sind niedrig, die Mädels arbeiten im Hotel von früh bis spät. Sie bedienen Gäste, die Geld in die Besichtigung ihrer verbrannten Heimat investieren. Sonst ist für die jungen Leute in dem Gebiet nicht viel los.

Luda und ich überlegen, wie wir den heutigen Tag gestalten. Ein paar Wünsche sind noch offen. Es ist super, sie als Guide zu haben. Mit ihr sind wir äußerst flexibel. Mehr als je erhofft, lässt sie uns die Sperrzone an der langen Leine erkunden. Mit ihr fahren wir nicht nur stur und schnell, schnell, schnell die Standards ab. Sie gibt uns die Zeit die wir brauchen.

Das Krankenhaus von Prypjat

Nach dem Frühstück fahren wir zum berühmten Krankenhaus, in welchem die Feuerwehrmänner und das Kraftwerkpersonal nach ihrem Einsatz an der Unglückstelle behandelt wurden. Wieder schaukelt der Bus über die aufgebrochenen Wege, links und rechts hohe Bäume und Gestrüpp. Die Vegetation macht nur an den noch benutzten Wegen halt. Das Wurzelwerk kämpft sich unablässig an die Oberfläche. Kleinere Straßen und Fußwege sind nicht mehr existent. Stumm stehen die Betonriesen mit schwarzen Fenstern in einer Art Dornröschenschlaf. Auf Wiedererweckung besteht keine Chance. In wenigen Tagen werden die Bäume und Sträucher hier wieder grün. Der Großstadt-Dschungel macht dann wahrscheinlich seinem Namen alle Ehre.

Am Klinik-Komplex angekommen, gibt uns Ludmilla einen kurzen Überblick. Mehrere große Gebäude gehören zu dem Krankenhaus. Der Keller mit der verseuchten Einsatzkleidung der Feuerwehrmänner ist inzwischen zugeschüttet. Die Strahlenwerte, die von den entsorgten Uniformen noch immer ausgehen, sind mit der Anzahl der Touristen und deren Unvernunft wahrscheinlich nicht mehr in Einklang zu bringen. Ein kleiner Stofffetzen liegt, sicher nicht ganz unbeabsichtigt, auf einem der Tische am Eingang. Hier schlagen die Dosismessgeräte ordentlich Alarm. Seltsam ist mir Zumute in der Nähe des Stückes Stoff. Wieder ist es das Unsichtbare, was mich innerlich schauern lässt. Die Werte auf der Segmentanzeige steigen und steigen. Auf über 727 µSv bringt es das Gerät bei Messung von α-, β- und γ-Strahlung.

Nun haben wir eine Stunde Zeit, um die restlichen Räume und Gebäude zu erkunden. Die üblichen Plünderungen sind auch hier nicht ausgeblieben. Trotzdem gibt es genügend Anhaltspunkte zur Orientierung. In langen Gängen stehen verwelkte Blumenkästen. Immer wieder gibt es Schautafeln, welche über die korrekte Behandlung bestimmter Wunden informieren. Vereinzelt stehen noch Betten in den Zimmern, die Schieberwaschanlagen befinden sich in gutem Zustand und auch in den Behandlungsräumen stehen Gerätschaften, die zur einstigen Bedeutung der Räume Auskunft geben. OP-Lampen und Liegen, monströse Röntgengeräte, gynäkologisches Sitzmöbel, Aktenräume oder Wartezimmer. Selbst in den Medizinschränken stapeln sich Päckchen und Ampullen. Der Fußboden eines Zimmers ist über und über bedeckt mit Infusionsnadeln an dicken Schläuchen. Beim Blick auf die Nadeln verstehe ich die Worte, die Herr Muffmuff gern vor jeder anstehenden Grippeimpfung aufsagt. Als Kind hatten ihm die Ärzte oft eine Elefantenhaut unterstellt, bevor sie ihm die fetten, stumpfen Nadeln mit Kraft unter die Haut drückten. Auf einem Fensterbrett in der Röntgenabteilung finden wir Aufnahmen einer Lunge. Der ganze Boden ist bedeckt mit diesen Filmstreifen. Da wir nichts anfassen wollen, bleiben weitere Diagnosen aus.

Besonders beklemmend sind die Kinderstation und die psychiatrische Abteilung (vermutlich Suchterkrankungen). Die kleinen Zimmer sind doppelt gesichert und bieten über einen Sehschlitz Einblick. Eine Art Schleusenklappe war sicher zum Reichen der Speisen gedacht. Auch in diesen Krankenzimmern stehen zum Teil die kleinen Gitterbettchen. Im Treppenaufgang zeigt eine Wandzeitung Fotos aus dem Alltag der Kinderstation vor dem Unglück. Es ist heute nicht mehr zu erkennen, dass es sich hier um ein, für damalige Verhältnisse, modernes Krankenhaus handelt. Die maroden Zustände erlauben nur die Gedanken, dass es hier gruslig ist und schon immer war. Dabei sprechen großzügige helle Warteräume mit Pflanzkästen eigentlich eine andere Sprache.

Café Prypjat

Durch das Unterholz kämpfen wir uns zurück zum Bus. Der Tag ist noch jung, doch schon wieder strömen die Eindrücke wie ein Platzregen in unsere Köpfe. Nun geht es zum Café Prypjat. Dieses liegt am Hafen. Das Wasser am See ist noch bedeckt mit einer milchigen Eisschicht. In der Ferne sehen wir ein halb versunkenes Schiff und die Hafenkräne. Für unser Zeitkontingent sind diese leider zu weit entfernt. Das Ausflugslokal hat große Fenster zur Seeseite. Ein weiterer Raum fährt mit einem imposanten Glasmosaikfenster auf. Ludmilla erzählt mir, dass sie einmal mit einer Fotografin zwei Stunden auf die Sonne gewartet hat. Als die Lichtstrahlen dann endlich das bunte Glas erreichten, muss der Anblick überwältigend gewesen sein. Heute halten weder die tropfnasse Küche noch die Getränkeautomaten am Eingang Erfrischungen für Touristen bereit.

16th floor, Rooftop, Prypjat

Es folgt das Highlight des Tages, wobei die einzelnen Stationen kaum miteinander verglichen werden können. Bei der Buchung der Agentur und meinen Recherchen zur Reise, war ich ein wenig bestürzt, zu lesen, dass das Betreten sämtlicher Gebäude untersagt sei. Es besteht die Pflicht ständig auf den Wegen und in der Nähe der Guides zu bleiben. Nun stapfe ich mit der gesamten Mannschaft durch das Treppenhaus eines 16-Geschossers. Alle Wohnungen sind leer, die Fahrstühle verrammelt. Immer weiter geht es nach oben. An jeder Etage ergibt sich ein neuer Ausblick. Als wir aus der Tür auf das Dach treten, liegt uns die Geisterstadt zu Füssen – ein modernes Pompeii.

Das sich bietende Panorama ist nicht in Worte zu fassen. Alles steht still. Wir überblicken die breiten Alleen, sehen den Vergnügungspark von oben und dahinter den mit dem Grau des Himmels verschmelzenden silbern glänzenden Sarkophag. Die überwucherten Straßen sind leer. Alle Fenster sind stumm und schwarz. Selbst andere Touristenbusse lassen sich zu dieser Zeit nicht entdecken. Und doch treibt unentwegt neues Leben aus. Ein zartes Bäumchen hat sich durch die Teerschicht gekämpft. Die Weidenkätzchen künden den nahenden Frühling an. Nicht im Traum hätte ich mir ausgemalt, hier oben auf dem Dach zu stehen. Von hier eröffnen sich das Ausmaß der Stadt und somit auch das Schicksal der etwa 50.000 Bewohner.

Es bleibt keine Zeit, das Gesehene hier zu verdauen. Nach etwa einer Stunde Rooftop Prypjat kreiseln wir die Treppen von Hausnummer 12 schon wieder nach unten. Auf dem Weg zum Bahnhof Janiw können wir noch schnell aus dem Bus hüpfen, um die 3 beeindruckenden Relief-Mosaike an den ehemaligen Kaufhallen zu besichtigen. Am besten erhalten ist das Gelbe.

Bahnhof Janiw

Die Eisenbahnwaggons, die wie Spielzeug im Wald verstreut liegen, werfen Fragen auf. Denn von der radioaktiven Strahlung allein, kippt kein Zug von den Gleisen. Ludmilla klärt uns auf, dass auch hier der Wert der verarbeiteten Metalle dazu führte. Mit Panzerkraft wurden die Züge von den Gleisen gezogen. Mit riesiger Gerätschaft rückt man den Eisenkolossen zu Leibe, entnimmt alles das, was noch irgend möglich zu Geld zu machen ist.

Reaktor 4, der neue Sarkophag

Auch wenn wir den Sarkophag im Vorbeifahren inzwischen einige Male gesehen haben, steuern wir nun direkt auf den stillgelegten Teil des Kernkraftwerkes zu. Die silberfarbene Hülle glänzt neu und etwas deplatziert innerhalb der sonst so verrottenden Zivilisationsreste. Aber das Bauwerk mit den unglaublichen Abmessungen tut seinen Dienst. Seit November 2016 überdeckt das mehr als 36.000 Tonnen schwere Konstrukt seinen brüchig gewordenen Vorgänger. Ludmilla sagt, dass die Strahlungswerte innerhalb der letzten 4 Monate schon drastisch zurückgegangen seien. Die Abmessungen von 110 Metern Höhe, 165 Metern Länge und 257 Metern Breite scheinen mir vor Ort nicht so gigantisch. Überhaupt wirkt alles überraschend harmlos und clean. Ich stehe hier vor Reaktor 4 in Tschernobyl und es könnte ebenso gut das Tropical Island in Brandenburg sein. Dazu kommt, dass einer von Ludmillas pelzigen Freunden, uns putzmunter, gesund und fröhlich am Denkmal vor dem Sarkophag umgarnt. Entspannt rollt er vor uns auf dem Asphalt, lässt sich kraulen und von den lästigen Atomzecken befreien. Eines dieser widerlichen Exemplare platzt spritzend unter Herrn Muffmuffs Schuh, als es versucht den liebenswerten Hund erneut zu befallen.

Dass dieses harmonische Bild trügerisch ist, wissen wir alle. Auch dieser Schutzmantel stellt nur eine Zwischenlösung dar. Das Gebiet ist weit weg von bewohnbar – und bleibt es vermutlich auch für kommende Generationen. Das AKW schafft Arbeitsplätze für hunderte. Diese Menschen nennen sich selbst jedoch nicht unbegründet "die Totgeweihten“.

Kühlturm Reaktor 5

Von hier aus ist es nicht weit, bis zum Kühlturm von Reaktor Nummer 5. Für die erste und zweite Reihe des AKW Tschernobyl wurde das Wasser aus dem künstlich angelegten See mit der Gesamtfläche von 22 km entnommen. Mit Baubeginn der zweiten Reihe (Block3 und 4) wurde der Kühlteich verlängert und bekam somit das heutige Aussehen. Weitere Planungen sahen den Bau von insgesamt 12 Reaktoren vor. Eine derartige Vergrößerung des Kühlteiches gab jedoch das Gelände nicht her – sein südliches Ufer reichte bereits dicht an den Stadtrand von Tschernobyl. Die einzige Lösung war die Errichtung zweier Kühltürme für die sich im Bau befindlichen Reaktoren der dritten Reihe. Außen und an der Innenseite der unfertigen Kühltürme hängen noch immer die Baugerüste.

Wir sind froh, dass diese auch während unseres Aufenthaltes im Kühlturm an Ort und Stelle verbleiben. Die Größe des Turms und die Akustik im Inneren sind überwältigend. Überwältigend ist ein Adjektiv, welches nahezu alle Orte beschreibt, die wir hier in der Kernzone besuchen.

DUGA 3

Nach dem Mittagessen im Desiatka und bevor unsere Individualtour endet, steuern wir ein letztes Wunschziel an: die rund 150 Meter hohe Antennenanlage des DUGA 3 Radarsystems. Wenn alles gut geht, dürfen wir den Kolloss aus Stahl beklettern. Da es große Konkurrenz zwischen den Tourismusagenturen gibt, wollen wir jedoch keinesfalls die Lizenz unseres Tourguides riskieren. Als wir aussteigen, klappen uns die Kinnladen nach unten. Zu dieser Anlage waren bereits unsere Vorstellungen unermesslich. Dass "gigantisch“ aber nicht reichen würde, um den russischen Woodpecker auch nur annähernd zu definieren, damit hatten wir nicht gerechnet. Auf Fotos passt das Monstrum nur bei Panorama-Aufnahmen. Am besten werden die Größenverhältnisse ersichtlich, wenn man 11 kleine Geocacher am Fuße des Radars mit auf das Bild bekommt.

Ich muss nicht erwähnen, dass auch hier einige von Ludmillas Schützlingen ihr Zuhause haben. Ludmilla beteiligt sich an einem Projekt, welches sich um die streunenden Hunde und Katzen der Kernzone kümmert. Dass sie bei den gelegentlichen Besuchen ein derart inniges Band zu den Tieren flechten kann, ist faszinierend. Die junge Selma jedenfalls ist außer Rand und Band. Sie kennt den Weg und freut sich über die Abwechslung und die Aufmerksamkeit, die ihr durch unseren Besuch zu Teil wird. Die Reglung, keine Tiere anzufassen ist völlig in Vergessenheit geraten. Alle gelernten Kunststücke führt uns das 9 Monate alte Energiebündel vor. Dazwischen wandern die Blicke immer wieder nach oben in das nicht endende Stahlgeflecht. Ludmilla erzählt uns, dass ein Umkippen des Duga 3 ein Erdbeben der Stärke 4 auslösen würde. Das 40 Meter tiefe Fundament sollte jedoch noch einige Zeit Halt bieten. Außerdem ist es eher unwahrscheinlich, dass das Konstrukt umfallen könnte wie
ein Brett.

Als wir die Nebengebäude und Rechenzentren der Anlage besichtigen, lässt die Aufnahmefähigkeit unserer Hirne langsam nach. Die Menge an Informationen und Eindrücken ergeben eine gesättigte Lösung. Bei Boeph kehren die Lebensgeister animiert durch Selma langsam zurück. Bei einem Event – welches Ludmilla eigens für uns Geocacher veranstaltet, gibt es Geschenke. Ein paar Gutscheine für weitere Ausflüge und Tschernobyl-T-Shirts.

Die Individualtour völlig am Ende...

Auch wir wollen für Ludmilla, für ihr Tierschutzprojekt sowie für den Busfahrer sammeln. Als Organisatorin der Reise bin ich freilich stolz, dass alles so gut funktioniert, wie ich es in wochenlanger Vorarbeit geplant hatte. Alle anderen freuen sich ebenfalls und geben das Lob auch oft genug weiter – so dass es mir schon fast unangenehm ist. Ein wenig unfreiwillig werde ich während der Reise jedoch zum Reiseleiter ernannt und bin für nahezu alle Fragen und Probleme zum Ansprechpartner mutiert. Gern auch die gleiche Frage in 10-facher Ausführung. Ich bin von den ganzen Eindrücken genauso platt, wie der Rest. Nachdem ich fast in Einzelgesprächen erklärt habe, wie und wo wir das Geld für Luda einsammeln und dann trotzdem alleine an der vereinbarten Stelle stehe, muss ich sehr tief Luft holen, um nicht die Contenance zu verlieren. Die Geschenk-Übergabe hätte ich gerne etwas herzlicher gestaltet. Aber schon bei den ersten Worten merke ich, wie mir die Stimme wegbricht. Scheiße, jetzt nur nicht flennen. Zurück im Bus muss ich längere Zeit sehr konzentriert aus dem Fenster schauen. Wir passieren die letzten Strahlen-Kontroll-Schleuse und verlassen die Kernzone.

Berufswunsch Reiseleiter ;-)

Schon während der Rückfahrt nach Kiew überlege ich, wie ich den erneuten Check-in im Hotel für mich möglichst nervenschonend gestalten soll. Ich weiß, dass ich die gleichzeitige Kommunikation mit dem Administrator und der fragenstellenden Reisegruppe im Hintergrund heute Abend nicht mehr auf die Reihe bekommen würde. Gemeinsam mit dem Muffmuff-Mann stelle ich in der letzten Busreihe den Schlachtplan zusammen. Wir schlüsseln vorab die Preise pro Doppelzimmer und Person auf. Rechnen dann die Versorgung
mit dem Krankenhausfrühstück für Dienstag früh ein. Wir vergessen nicht, an die zusätzlichen Decken in den Männerzimmern zu denken sowie eine sinnvolle Uhrzeit für den Transfer zum Flughafen zu berechnen. Dazu bestimmen wir auch, wann das Frühstück da sein muss, damit alle Zeit haben zu duschen, zu packen und in Ruhe zu frühstücken. Wir recherchieren ein Frühstückslokal für Montag und versuchen zu kalkulieren, wie lange man dahin läuft und welche Zeit ein Frühstück mit 11 Personen in etwa beanspruchen könnte. Denn 10 Uhr holen uns die Guides für unsere Underground-Tour ab. Der Plan ist: ich gehe alleine nach oben, kläre alles, so dass jedes Team nur noch bezahlen und den Schlüssel mitnehmen muss.

 

Noch während wir Ludmilla verabschieden, kommen die ersten Fragen: "Wie ist der Plan?", "Wohin gehen wir essen?", "Wann treffen wir uns?“. Ich erkläre, dass ich zuerst und vorallem allein die Zimmeraufteilung und Bezahlung regle. Für die weitere Besprechung des Abendprogramms und um die für mich frustrierende Situation aufzulösen, bitte ich alle nach Erhalt der Schlüssel auf unser Zimmer.

Als ich an der roten Rezeption im Fire Inn ankomme, sitzt da nicht der Administrator vom letzten Mal. Ein älterer Herr, welcher ausnahmslos ukrainisch spricht, hat den Platz eingenommen. Ein sinnvolles Gespräch ist kaum möglich. Also probieren wir es mit Händen und Füssen, mit Stift und Block.

Zimmerreservierung in perfektem Ukrainisch
Zimmerreservierung in perfektem Ukrainisch

Inzwischen habe ich sechs Zimmergrundrisse aufgemalt. In Zimmer 1 schläft ein einzelnes Strichmädchen namens Ute mit einem Menü 1 für Dienstag. Zwei weitere Skizzen zeigen die Belegung mit zwei gut befreundeten, aber keinesfalls anderweitig liierten Herren. Diese benötigen je eine zusätzliche Bettdecke, welche ich pantomimisch überzeugend darstellen kann. In den übrigen drei Grundrissen liegen Strichpärchen. Zu jedem Zimmer schreiben wir nun den Preis sowie die Namen der Bewohner und legen den Zimmerschlüssel dazu. Als alles vorbereitet ist, sind der Administrator und ich sehr stolz auf unser Werk. Auch wenn das Ganze ein wenig gedauert hat, funktioniert das System super. Jeder Einzelne kann nun bezahlen und sein Zimmer beziehen.

Zum klärenden Termin in unserem Zimmer gab es 9 verschiedene Auffassungen. So kommt jeder anders angebummelt. Der Vorgang an der Rezeption war meiner geistigen und mentalen Frische nicht gerade zuträglich. Eigentlich weiß ich auch gar nicht so recht, wie ich das ganze anfangen soll und auf den Schlips mag ich auch niemanden treten. Ich versuche darum zu bitten, dass wenigstens hier vor Ort alle ein bisschen mitwirken und nicht jede noch so kleine Aufgabe an mir hängen bleibt. Umgehend fühle ich mich wie vor
einer gescholtenen Schulklasse. Ohne zu Heulen bekomme ich diese Situation nun eh nicht mehr gewuppt. Von daher hoffe ich, dass die Kernaussage alle erreicht hat. Die Stimmung habe ich erfolgreich in den Keller gezogen. Mit dem schlechten Gewissen geht es mir nun auch nicht besser.

Kein Bier bei Katyusha und andere Missverständnisse

Wenn auch nicht in bester Laune zieht die Gruppe kurz darauf zum gemeinsamen Dinner durch die Straßen Kiews. Herr Muffmuff ist um die Auswahl eines Restaurants bemüht und führt uns, bis wir im Katyusha mit unseren 11 Personen Einlass erhalten. Ein Bierchen wird die Stimmung schon wieder abkühlen und für gesellige Fröhlichkeit sorgen. Im Restaurant mit dem betont sowjetischen Charme finden wir einen freien Tisch. Bei der Getränkebestellung heißt es plötzlich von der Kellnerin: "No Beer!“. Wie? Haben wir das richtig verstanden? Nein, das Bier sei alle! Und das nach einem Tag, bei dem die Smartwatch einen Rekord von 101 Etagen verzeichnet. Die Bedienungen sind nicht sonderlich herzlich und das leichte Schmunzeln auf den Lippen, deuten wir eher als Schadenfreude. Lennert87 versucht nun einen Mojito zu ordern. "Nein – kein Mojito! Kein Alkohol!“. Die Kellnerin grinst. Als wir kurz darauf Buntstifte und Ausmalblätter auf den Tisch bekommen, drehen wir uns das erste Mal nach der versteckten Kamera um. Im Fernsehen an der Wand läuft "Der Hase und der Wolf bei Olympia“. An den Nachbartischen wird mit Wein und Wodka angestoßen. Wir bestellen Limonaden, Sellerie-Smoothies und heiße Schokolade. Erste Verzweifelte greifen zu den Stiften. Die Bedienung verzieht keine Miene.

Das Essen wird gebracht und ist sehr lecker. Mehrfach entschuldigt man sich für die Wartezeit, die ich eigentlich als gar nicht so lang empfinde. Nach dem Essen stellt man uns eine fette Schokoladen-Torte auf den Tisch. "Present!“ verkündet die Kellnerin. Das alles passt überhaupt nicht zusammen. Nun kann nur noch der Google Übersetzer helfen. Des Rätsels Lösung: das Bier war wirklich alle und für den Mojito hat nur die Minze gefehlt. Der Kuchen war ein Geschenk, weil wir so lange auf das Essen warten mussten. Umgehend schämen wir uns für unsere Vorurteile. Trinkgeld wird wieder in Betracht gezogen.

Banka Bar - der Underground in Einmachgläsern

Nach dem Erlebnis trennt sich die Gruppe: eugenkrf und Papa Capitano wollen die Nacht noch zur Dosensuche nutzen. Boeph ist froh, den Tag überlebt zu haben und beschließt, dass ihr ein wenig Ruhe gut tun würde. Der Drago-Mann und der Werkstroll begleiten Sie zum Hotel. Der Rest streift durstig durch die Kiewer Nacht, auf der Suche nach einer Bar, die 22 Uhr noch ein Bier ausschenkt. Gar nicht so einfach. Ein Zwischenbier gibt es bei einem Italiener, bevor auch der seine Pforten schließt. Kurz bevor wir aufgeben, haben wir den richtigen Riecher für eine etwas dustere Location im Souterrain "Banka Bar“. Fette Balkanbeats poltern uns entgegen. Unsere Kleidung ist für das schummerige Licht mehr als angemessen, für die Toilette wären Gummistiefel besser gewesen. Aus den Einweck-Gläsern schmeckt das Bier besonders gut. Da ist es mir auch schon egal, als Lennert87 meint, er wollte schon immer mal mit seinen Eltern in die Disko gehen. Eine Stunde später verkünden Trillerpfeifen und Geburtstagsgesänge das Ende des Abends. Die Bar schließt heute eher und nimmt uns damit den vernünftigen Umgang mit Alkohol für die heutige Nacht ab. Verrückt, was alles in einen Tag passt.

PS: Falls man es den Ausführungen nicht anmerkt: die Tage waren wirklich sehr lang und die Effizienz der Zeitnutzung lag etwa 20 Prozent oberhalb des Machbaren. Sollten wichtige und erwähnenswerte Details fehlen, dürfen diese gerne in den Kommentaren ergänzt werden. Wie immer freue ich mich auf Feedback und wie immer könnt ihr alle Bilder auch in "groß" betrachten. Einfach draufklicken.

 

Fürs Gewissen: Die Tour mit Euch allen war super. Auch wenn zwischenzeitlich der Riemen bei mir mal kurz runter war, so waren wir trotzdem eine tolle Truppe. Wir hatten viel Spaß mit Euch.



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Kommentare: 4
  • #1

    Drago Frau alias boeph (Samstag, 18 März 2017 22:19)

    Ich habe Tränen gelacht beim Lesen.
    Aber für den geniale Abend am Vortag, sind die Strapazen schnell vergessen, soll wohl nach der Geburt eines Kindes ähnlich sein.
    =D

  • #2

    Frau Muffmuff (Sonntag, 19 März 2017 08:16)

    Zur Geburt von Kindern fragst Du die Falsche :) - aber das war wirklich ein straffes Programm. Super, dass alle so gut mitgemacht haben. Ich finde, wir sollten so langsam das nächste Ziel raussuchen, oder?

  • #3

    eugenkrf (Sonntag, 19 März 2017 22:52)

    Ich bin überwältigt, was wir gemeinsam an einem Tag erlebt haben. Viele Erlebnisse kamen beim Lesen wieder in mein Gedächtnis. Vielen Dank Nicki.

  • #4

    Schoko-Latte-Mobbing-Opfer (Mittwoch, 22 März 2017 07:50)

    Respekt an meine bessere Hälfte, dass sie so eisern durchgezogen hat :).